Die Rundschau vom 15.02.2007

ANTONIO FLORIO AUS TAMM HAT ÜBER VIER JAHRE UM SEINE AUTONOMIE GEKÄMPFT
„Wer aufgibt, hat schon verloren“

Von Inga Grigoleit

Viereinhalb Jahre dauerte sein langer Weg durch die Institutionen, seine Verhandlungen mit dem Landratsamt Ludwigsburg als Sozialhilfeträger um angemessene Unterstützung. Eine Unterstützung, die in anderen Bundesländern kein Problem zu sein scheint. „Arme Länder wie Bremen und Hamburg tun sich leichter als Baden-Württemberg mit der Förderung des selbstbestimmten Lebens Behinderter“, wundert sich Antonio Florio. Ob das wirklich so ist, möchte Beatrix Spether, Sozialamtsleiterin in Ludwigsburg, nicht beurteilen, da sie keinen Einblick hat in Verfahrensweisen anderer Bundesländer.

Wie dem auch sei: Letztendlich ist es nun doch geschafft. Geschafft hat es den frisch gebackenen offiziellen Arbeitgeber allerdings ebenfalls. Als er sich im November 2001 entschloss, so autonom wie möglich zu leben, wusste er nicht, dass es so schwierig werden würde. „Im August 2004 hätte ich nicht mehr geglaubt, dass ich es noch schaffe“, erinnert sich Antonio Florio. Wider Erwarten hatte er mehrere Gerichtsverfahren verloren – und plötzlich 30 000 Euro Schulden angehäuft, da er in gutem Glauben bezüglich der Unterstützung vom Amt das Arbeitgebermodell bereits praktizierte. Die jedoch blieb aus. Unterstützung kam von anderer Seite: Von seinen Pflegekräften und Freunden, die lieber vorübergehend unentgeltlich oder geringfügig bezahlt für „ihren Toni“ arbeiteten als ihn hängen zu lassen. Dass das Verfahren so lange dauern würde, hätten auch sie nicht gedacht: „Ich kann das nicht verstehen“, so eine Mitarbeiterin, „immerhin geht es hier auch um Menschenwürde.“ Unterstützung kam auch vom Verein „Freundeskreis Selbstbestimmt Leben Ludwigsburg e. V.“ beziehungsweise von der evangelischen Gesellschaft Stuttgart. „Ein Glücksfall“, sagt Antonio Florio heute. In all den Jahren erzählte er seinen Eltern nichts von den Strapazen, die er durchmachte und von den Existenzängsten, die ihm schlaflose Nächte bescherten: „Ich wollte sie nicht beunruhigen“, sagt Antonio Florio.

„Im süddeutschen Raum haben wir einen hohen Nachholbedarf für Modelle, wie sie Antonio Florio praktiziert“, sagt Martin Beitinger von der evangelischen Gesellschaft Stuttgart. „Sicher hätte man in seinem Fall mehr Kompromissbereitschaft zeigen können. Allerdings fehlen auch Gesetze als Richtschnur für Verwaltungsbeamte.“ Das sieht Beatrix Spether etwas anders – Rechtsgrundlagen seien weniger relevant, da nicht pauschal, sondern einzelfallorientiert entschieden werde, und zwar auf der Basis kompenter Gutachten. „Dann erst erwägen wir, was der Antragsteller wirklich braucht.“

Erfahrungsgemäß setzen Kostenträger oft auf Zeit, weiß Beitinger, obwohl bekannt sei, dass Anträge nach Bekanntwerden einer Notlage innerhalb weniger Monate bearbeitet werden müssten. „Drei Monate“, bestätigt Beatrix Spether. Warum aber hat das Procedere bei Antonio Florio über vier Jahre gedauert? Es seien immerhin zwei Verfahren gewesen, erklärt Beatrix Spether. Bei dem ersten sei Florios Forderung zu hoch gewesen, zumal er vorher in einer ambulanten Einrichtung gelebt habe, die kostengünstiger war. „Es kann nicht sein, dass grenzenlos Unterstützung gewährt wird.“

Für Antonio Florio sei die lange Zeit der Unsicherheit eine halsbrecherische Zerreißprobe gewesen. weiß Martin Beitinger rückblickend. „Aber diese schwere Zeit hat ihm die Chance gegeben, sich zu emanzipieren und sich weiterzuentwickeln – und er ist daran gewachsen. Er ist ein Kämpfer – und als solcher hat er sich der Zerreißprobe gestellt. Andere hätten aufgegeben.“ Wie viele „andere“ gibt es im Kreis Ludwigsburg? “ Wir haben fünf bis sechs konstante Fälle“, sagt Beatrix Spether. Und wie viele kommen pro Jahr dazu? „Nicht allzu viele“, sagt die Sozialamtsleiterin.

Mittlerweile hat Antonio Florio eine Ausbildung zum Berater für persönliche Assistenten beim Verband behinderter ArbeitgeberInnen, Selbstbestimmt Leben e.V. absolviert und ist ehrenamtlich im Schachkreis Ludwigsburg tätig – er möchte der Gesellschaft etwas zurückgeben, sagt er.

„Ich finde es toll“, meint Martin Beitinger, „wenn Behinderte für andere zum Denkanstoß werden.“

Multimedial hat sich die Geschichte von Antonio Florio bereits als Denkanstoß erwiesen – und zwar als cineastischer.

„Kein Stillhalter“ heißt der Film über den beschwerlichen Weg des spastisch Gelähmten in ein selbstbestimmtes und eigenverantwortliches Leben. Das Werk wurde von der Filmhochschule Mainz als bester Dokumentarfilm des Jahrgangs prämiert. Es ist ein Film der leisen Töne, schnörkellos und wertfrei, mit Statements von Mitarbeitern des Landratsamts, von Martin Beitinger, von den Mitarbeitern Antonio Florios und natürlich von ihm selbst. In seiner edlen Schlichtheit und seiner subtilen lebensbejahenden Fröhlichkeit wirkt er fast poetisch, der Film, den die Studenten der Filmhochschule jetzt öffentlich-rechtlichen Sendern anbieten. Sein Tenor ist das Motto von Antonio Florio – und das zieht sich wie ein roter Faden durch die Dokumentation über den kämpferischen Mann aus Tamm: „Wer aufgibt, hat schon verloren.“

Quelle: Die Rundschau vom 15. Februar 2007
Ich bedanke mich bei der Autorin und der Die Rundschau für die Genehmigung der Übernahme.