Stuttgarter Zeitung vom 03.11.2006

Antonio Florio darf selbst bestimmen
Ein spastisch gelähmter Mann gewinnt den langen Kampf für seine Vorstellung vom Leben

TAMM. Viereinhalb Jahre lang hat der behinderte Antonio Florio um Geld gekämpft, das ihm das Leben in seiner eigenen Wohnung nach seinen eigenen Vorstellungen ermöglicht. Nun hat der 32-Jährige sein Ziel erreicht.

Von Verena Mayer

Als die gute Nachricht vom Anwalt kam, hat Antonio Florio dann doch ein Glas Sekt getrunken und ein paar Tränen wegwischen müssen. Freudentränen. Obwohl Antonio Florio eigentlich immer sagt: „Ich will nichts Besonderes, ich will nur normal leben.“ Doch als das Fax vom Anwalt kam, wusste der 32 Jahre alte Mann, der seit seiner Geburt spastisch gelähmt ist, dass er das nun kann. Ein langer Kampf war zu Ende gegangen.

Begonnen hatte dieser Kampf im Mai des Jahres 2002. Damals zog Antonio Florio in seine eigene Mietwohnung nach Tamm. Er wollte selbst bestimmen, wann es was es zu Essen gibt, wer ihn pflegt, wann er sich in die Disko, aufs Volksfest oder zum Schachspielen fahren lässt. In der Wohngemeinschaft der „Initiative Selbstständiges Leben Behinderter im Landkreis Ludwigsburg“, kurz Insel, war das so nicht möglich. Acht Jahre lebte Florio bei der Insel, er fühlte sich wohl, doch dann wollte er mehr. „Die Insel hat das Ziel, Menschen mit Behinderung in die Selbstbestimmung zu führen“, sagt Antonio Florio. Er hat dieses Ziel erreicht. Der Patient der Pflegestufe drei hat sich selbst zum Chef gemacht. Seit Antonio Florio in seiner eigenen Wohnung lebt, führt er Vorstellungsgespräche mit Pflegern und Helfern, gibt ihnen Arbeit, erstellt Dienstpläne und überweist die Löhne. So sollte es in der Theorie sein.

Weil diese Form des selbstbestimmten Lebens so viel teurer ist als das ambulant betreute Wohnen bei der Insel, hat sich das Landratsamt als Sozialhilfeträger lange geweigert, Florio mehr Geld zu bezahlen als früher.

Früher kostete der Behinderte den Landkreis rund 2800 Euro im Monat, für sein neues Arbeitgebermodell forderte Florio anfangs 4700 Euro. Nach vielen Gesprächen und Verhandlungen hat der selbst ernannte Arbeitgeber aus Tamm seinen Bedarf auf 3200 Euro herunter gerechnet. Dafür hat Antonio Florio einer fest angestellten Pflegerin den untertariflichen Lohn gekürzt, der zweite Festangestellte wird inzwischen von der evangelischen Gesellschaft (Eva) in Stuttgart bezahlt und rund zehn Freunde und Bekannte sorgen als geringfügig Beschäftigte dafür, dass ihr Chef mindestens 11,25 Stunden am Tag gepflegt werden kann.

Dennoch trennten den Sozialhilfeträger und den Arbeitgeber zuletzt noch 200 Euro von einer Einigung. Das Verwaltungsgericht in Stuttgart hatte dem Landratsamt Recht gegeben, das Sozialgericht in Heilbronn, wo Florios Anwalt eine einstweilige Anordnung beantragt hatte, gab hingegen dem Arbeitgeber Recht. Die Mehrkosten in diesem Fall „dürften kaum als unverhältnismäßig angesehen werden können“, hat das Gericht geurteilt – und das Landratsamt hat den Beschluss akzeptiert. Nun bekommt Antonio Florio das Geld, das er für sein Leben braucht.

„Einen Sieg kann man das nicht nennen“, sagt Antonio Florio. Der Kampf für sein Arbeitgebermodell sei schließlich kein Schachspiel gewesen. Wenn man etwas erreichen möchte, müsse man eben etwas tun. Er habe etwas getan. „Deswegen hebe ich nicht ab.“ Aber ein anderes Gefühl, das hat er jetzt schon. Endlich hat er den Eltern von den Strapazen der vergangenen viereinhalb Jahren erzählen können und endlich kann er seine Helfer regelmäßig bezahlen. Weil er das, seit er Arbeitgeber ist, selten konnte, hat er bei seinen Angestellten inzwischen Schulden von fast 30 000 Euro. Sie haben ihren Chef dennoch nicht verlassen. Weil sie den „Toni“ nicht hängen lassen wollten, weil er doch nichts anderes wollte, als andere auch.

Beim Abbau der Schulden soll der Verein „Selbstbestimmt Leben Ludwigsburg“ helfen, den Freunde und Verwandte von Antonio Florio im September 2004 gegründet haben. Zurzeit hat er 75 Mitglieder, und die haben ein weiteres großes Ziel. Sie beraten behinderte Menschen im Landkreis Ludwigsburg, die selbstbestimmt leben möchten. Einer der Berater dafür ist Antonio Florio.

Quelle: Stuttgarter Zeitung vom 03. November 2006
Ich bedanke mich bei der Autorin und der Stuttgarter Zeitung für die Genehmigung der Übernahme.