Biografie – Von der Wohngemeinschaft in die eigenen vier Wände

Die acht Jahre in der Wohngemeinschaft wurden zum Fundament meines späteren eigenverantwortlichen Lebens. Meine Selbstständigkeit wuchs und, wenn auch langsam, baute ich mir ganz automatisch um mich herum ein soziales Netzwerk auf. Vor allem mit dem Kontakt zu Zivildienstleistenden begann mein eigener Freundeskreis zu entstehen. Das Verhältnis zu meinen
Eltern entwickelte sich gut und wurde stabil. Sie machten sich nicht mehr unnötige Sorgen. Das war für mich eine sehr große und schöne Entlastung.

Ein weiterer Anstoß zur Veränderung war der Auszug eines guten Freundes aus der Wohngemeinschaft, der ab diesem Schritt in Eigenregie lebte. Ich merkte, dass ich das in meinem Streben nach mehr Eigenverantwortung auch wollte. In einer kurzen Neuorientierungsphase
recherchierte ich über verschiedene Möglichkeiten, wie Menschen mit Behinderung selbstbestimmt leben können und stieß dabei im Internet 2002 auf das Arbeitgebermodell Ich ließ mich über diese Möglichkeit des eigenständigen Wohnens beraten und entschloss, mein Leben
rundum selbst in die Hand zu nehmen. Recht schnell fand ich über das Internet eine
Zweizimmerwohnung. Meine Versorgung konnte ich mithilfe meines sozialen Netzwerkes relativ gut sicherstellen. Die Finanzierung der neuen Wohnform beantragte ich beim örtlichen Kostenträger. Eine Erklärung über meine persönliche Entwicklung und das Verlangen nach mehr
Eigenverantwortung und Selbstständigkeit sollten dem Antrag Nachdruck und Glaubwürdigkeit verleihen. Allerdings blieb die Antwort vom Amt vorerst aus und ich unternahm einen Sprung ohne Absicherung. Trotz der fehlenden Finanzierung zog ich in meine eigenen vier Wände und wurde damit Arbeitgeber mit allen Rechten und Pflichten.

Meinen Eltern hatte ich nur am Rande von dem Vorhaben berichtet, weil ich wusste, dass sie sich Sorgen machen würden. Die Familie wusste nur, dass ich in eine eigene Wohnung ziehe, mehr nicht, allerdings wollten sie mir nicht recht glauben. Mein Auszug aus der Wohngemeinschaft war fast zeitgleich mit meinem Geburtstag. Meine Eltern erhielten von mir an meinem Geburtstag eine Karte mit der Aufschrift „Bin umgezogen“ und der neuen Adresse. Daraufhin besuchten sie mich und waren wieder einmal sehr von ihrem Sohn schockiert. Ihre Sorgen galten nun den finanziellen Fragen, wie ich mir einen eigenen Haushalt leisten kann und wer meine Assistenten bezahlt. Aber konkrete Antworten konnte ich ihnen damals noch nicht geben. Es war auch für mich Neuland und ich wollte mir erst selbst einen Gesamtüberblick beschaffen. Ich entschied mich ganz bewusst dafür, meine Eltern auf diesem für mich sehr steinigen Weg nicht mit einzubeziehen. Innerhalb von etwa vier Jahren kamen einige Zeitungsberichte über mich heraus, ein bis zwei pro Jahr. Das waren dann auch die hauptsächlichen Informationsquellen für meine Eltern, durch die sie etwas über meinen Streit mit der Behörde hinsichtlich finanzieller Unterstützung erfuhren. Sie wollten nun, dass ich in die Wohngemeinschaft zurückgehe, weil ich dort sicherer aufgehoben wäre und keinen Ärger hätte. Ihre Sorgen machten es ihnen damals wieder einmal unmöglich, meine persönliche Entwicklung zu sehen. Dazu trug allerdings auch die Gesellschaft ihren Teil bei, da viele Menschen aus dem Umfeld meiner Eltern meinen Drang nach Eigenverantwortung nicht akzeptieren konnten. Meine Eltern bekamen des Öfteren den Satz zu hören, dass ihr Sohn ein Egoist sei und es sich der Staat nicht leisten könne, dass dies jeder behinderte Mensch mache.

Die Situation änderte sich, als meine Eltern mich bei einem Vortrag erlebten, in dem ich meine neue Wohnform und den Streit mit der Behörde darstellte sowie über die Ängste von meiner Familie berichtete. Zum ersten Mal erlebten meine Eltern ihren nun eigenverantwortlichen Sohn als respektierten Mann in der Öffentlichkeit. Ihre Sorgen blieben zwar noch bestehen, allerdings schauten sie mich aus einem anderen Blinkwinkel an. Sie sahen, dass mein Vorhaben nun Hand und Fuß hatte.

Mein Weg war bisher stets steinig und mit Hürden versehen. Doch meine Fähigkeit mit Menschen umgehen, sie respektieren und Beziehungen pflegen zu können, hat immer wieder dazu geführt, dass Gelegenheiten und Möglichkeiten zum passenden Augenblick aufkamen und ich diese anpacken konnte. So auch im Jahr 2006. Ein Ex-Zivi und guter Bekannter von mir rief mich damals im Februar an und fragte, ob er einen Dokumentarfilm innerhalb seines Studiums über mich drehen dürfe. Dieses Angebot nahm ich sofort an. Im Mai 2006 wurde ein Rückblick über meine vergangen vier Jahre gedreht. Glücklicherweise konnte ich im September desselben Jahres meine Wohnform im zweiten Anlauf vor Gericht sicherstellen. Die Filmpremiere wurde kurz darauf von meinem Verein veranstaltet. Es war der Abend, an dem der vielseitige Bekanntenkreis, der mich stets unterstützt und voran getrieben hat, zusammentraf. Meine Familie, mein gesamter Freundeskreis, sowie mein Assistententeam und mein Arbeitgeber waren anwesend. In dem 40-minütigen Film konnten meine Eltern sehen, was ihr Sohn über vier Jahre durchgestanden hatte. Als der Film zu Ende war, umarmte mich meine Mutter mit Tränen in den Augen. Doch diesmal waren es Tränen der Freude und vor allem der Erleichterung. Sie sah ihren Sohn im Rollstuhl, der ganz fest auf eigenen Füßen stand. Auch mein Vater war sichtlich erleichtert. Er hatte ein Strahlen in den Augen, welches ich zuvor noch nie bei ihm gesehen hatte.

„Die Zeit heilt die Wunden“, dieser Spruch ist wahr.

Doch ich hatte auch viel Glück. Mein Leben war bisher ein endloses Puzzle. Zum richtigen Zeitpunkt konnte ich immer das richtige Puzzlestück finden und einfügen.

Mein soziales Netzwerk ist mein Reichtum, welchen mir niemand wegnehmen kann!

Bei der Feier des 60. Geburtstages meines Vaters war die ganze Familie anwesend. Ich bemerkte in mir, wie sehr ich diese Wärme von meiner Verwandtschaft vermisst habe. Mein eigenverantwortliches Leben habe ich mir hart erkämpft, doch meine Familie lehrte mich Wärme weiterzugeben. Es wurde mir erst jetzt bewusst, woher ich gelernt habe, mit Menschen umzugehen, sie zu respektieren und Beziehungen zu pflegen.

Heute habe ich zum Glück beides – meine Eigenständigkeit, ein selbstbestimmtes Leben und die Wärme und Unterstützung meiner Familie und meines großen sozialen Netzwerks.
Inzwischen lebe ich schon viele Jahre selbstständig und meistere mein Leben mit allen Hochs und Tiefs. Meinen Eltern bin ich sehr dankbar dafür, was sie für mich getan haben und dass sie letzten Endes akzeptieren konnten, dass ich wie alle erwachsene Kinder ein eigenständiges und unabhängiges Leben führen möchte. Sicherlich konnte ich mit den vielen erfolgreichen Aktionen und Themen, die ich für mich und für andere erreicht habe, beweisen, dass ich es schaffe…