Stuttgarter Zeitung vom 21.01.2005

Der Preis der Würde
Herr Florio möchte normal leben, doch das ist teuer

TAMM. Der behinderte Antonio Florio möchte ein unbehindertes Leben in einer eigenen Wohnung führen. Doch das scheint unbezahlbar, weil der Rollstuhlfahrer ständig Hilfe braucht. Antonio Florio kämpft und häuft Schulden an.
Von Verena Mayer

Am Ende dieses Tages wird Antonio Florio sagen, dass es ein guter Tag gewesen sei. Lang und anstrengend, aber gut. Solche Tage hat der 30-Jährige in den vergangenen zweieinhalb Jahren nicht viele gezählt. Der heute hatte mit einem Vortrag begonnen.

„Der behinderte Mensch darf nicht nur als finanzieller Kostenfaktor gesehen werden. Er ist ein für die Humanität der Gesellschaft wertvoller Mensch mit Würde“, sagt der Redner zum Thema „Zukunft der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung“. Unter den Zuhörern bei der Fachtagung in Hohenheim ist auch Antonio Florio. Er lächelt. Schöne Worte sind das. „Aber alles Theorie“, sagt er. „Blanke Theorie.“ Florio kämpft seit zweieinhalb Jahren um seine Würde, aber die ist teuer. Auch er wird an diesem Tag einen Vortrag präsentieren. Er wird seine Geschichte erzählen, und danach werden die Zuhörer sehr still sein.

Es war im Mai 2002, als Antonio Florio in seine eigene Wohnung in Tamm gezogen ist. Heute sagt er über seinen Umzug: „Ich war wie ein Schmetterling, der fliegt. Meine Flügel sind aufgegangen.“ Florio ist seit seiner Geburt spastisch gelähmt und deshalb auf den Rollstuhl angewiesen. Egal, was er tut, er braucht dabei Hilfe, ungefähr zwölf Stunden am Tag. Haare kämmen, Nase putzen, Aufstehen, Ausgehen, Einkaufen, Essen und bei allem andern auch. Bis zum Mai 2002 hat Antonio Florio acht Jahre lang in einer Wohngemeinschaft der Insel gelebt. Insel steht für „Initiative Selbstständiges Leben Behinderter im Landkreis Ludwigsburg“, und in deren 14 Wohnungen sollen 49 behinderte Menschen so selbstständig wie möglich leben. Ambulant betreutes Wohnen heißt dieses Modell, bei der es Wohngruppen gibt, und Fachkräfte, leitende, hauswirtschaftliche und pflegende.

Seit Antonio Florio nicht mehr bei der Insel wohnt, stellt er seine Kräfte selbst ein. Er bestimmt, wann es was zu Essen gibt, er kann das Haus verlassen, wann er möchte, er führt Vorstellungsgespräche, erstellt Dienstpläne, macht die Buchführung und zahlt Sozialabgaben für seine beiden hauptamtlichen Pflegekräfte. Diese Version des selbstbestimmten Lebens heißt Arbeitgebermodell. Antonio Florio sagt, dass er sich seit dem Auszug enorm entwickelt habe. Doch das Landratsamt, das als Sozialhilfeträger für den Großteil der Pflegekosten aufkommen muss, sagt was anderes. Es sagt, dass ein Arbeitgebermodell in diesem Fall zu teuer ist.

Als Florio in Schwieberdingen bei der Insel wohnte, kostete das den Landkreis rund 2800 Euro im Monat. Für das Arbeitgebermodell sollte er 4700 Euro bezahlen. „Unverhältnismäßige Mehrkosten“, argumentierte das Amt vor dem Verwaltungsgericht.

Diese Summe sei für den „geltend gemachten Gewinn an Lebensqualität“ nicht zu rechtfertigen. Das Verwaltungsgericht gab dem Landkreis zwar Recht, schlug aber einen Vergleich vor. Wenn das Amt Florio künftig 3600 Euro im Monat bezahlt, könne der Fall erledigt sein. Doch das Amt lehnte ab – zu teuer. So bekommt Florio weiterhin jene 2800 Euro, die auch bei der Insel angefallen sind, plus Zuschlag von rund 400 Euro, weil alleine manches teurer ist als in der Gruppe. Florio hat nicht aufgegeben. Aber Schulden hat er. Inzwischen mehr als 30000 Euro, einen Großteil davon bei seinen zwei Helfern.

Beate V.  hält Antonio Florio einen Becher mit Kaffee und einem dicken Strohhalm in den Mund und rückt ihm die Brille zurecht. Es ist halb zwölf. Vor etwa fünf Stunden ist sie zu „Toni“ nach Hause gekommen, hat ihn aufgeweckt, gewaschen, angezogen und ist mit ihm zur Tagung gefahren. Beate V. kommt unter der Woche jeden zweiten Tag zu Florio. Sie macht ihn für die Arbeit zurecht, fährt ihn mit seinem Auto hin und holt ihn mittags wieder ab. Dann gehen sie gemeinsam einkaufen oder zur Krankengymnastik, lösen Rezepte bei der Apotheke ein oder besuchen Tonis Freunde. Beate V. putzt, wäscht, kocht und kümmert sich um ihren Chef, bis sie abends um elf nach Hause fährt. Am Wochenende kommen Freunde, Studenten oder ehemalige Zivildienstleistende der Insel. Sie sind als geringfügig Beschäftigte angestellt.

Beate V. arbeitet seit zweieinhalb Jahren für den Behinderten der Pflegestufe drei. Geld hat sie seither nur selten bekommen. Dafür oft Unverständnis. Wie man das nur tun könne – arbeiten für nichts und wieder nichts. Die gelernte Haus- und Familienpflegerin hält trotzdem zum Toni. Sie findet das Arbeitgebermodell gut und sie mag ihren Chef, so sehr, dass ihr der Mensch wichtiger ist als das Geld. „Ich kann ihn doch nicht hängen lassen“, sagt sie – und dass sie sich mittlerweile für diese Gesellschaft schäme. Der Toni führe ja kein aufwendiges Leben, er wolle doch nichts anderes als andere auch.

Es ist nur so viel teurer als bei anderen. Und bei der Insel, argumentiert der Landkreis, sei es für Florio „zumutbar“ gewesen. Er sei gut gepflegt und versorgt worden, und „auch das beanspruchte Maß an Mobilität und Flexibilität namentlich im Freizeitbereich sei gewährleistet gewesen“. Florio habe den Behindertenbus häufig in Anspruch nehmen können, um sich in Diskos oder zu Schachturnieren fahren zu lassen. Dass solche Fahrten anzumelden sind, lasse sich nicht vermeiden. In Familien, wo es nur eine begrenzte Anzahl an Autos gebe, sei dies auch nicht anders.

Antonio Florio möchte aber nicht in einer Familie leben. „Die Ironie ist“, sagt er, „dass die Insel das Ziel hat, Menschen mit Behinderung in die Selbstbestimmung zu führen.“ Doch für ihn solle dort Endstation sein.
Das Landratsamt hatte vorgeschlagen, einen Pflegedienst zu engagieren statt Assistenten, das sei günstiger. Tatsächlich jedoch kam ein Gutachter zu dem Ergebnis, dass ein ambulanter Pflegedienst die „zeitlich nahe abrufbare Präsenz einer Nichtfachkraft“ in Florios Wohnung gar nicht leisten könne. Das Arbeitgebermodell sei günstiger. Noch günstiger aber sei auf Dauer das betreute Wohnen, weil sich dort die Kosten für die Angestellten auf mehrere Personen verteilen.

Die „Endstation“ wäre ein neues Mehrfamilienhaus in zentraler Lage in Ludwigsburg. Zwei große helle Wohnungen darin gehören der Insel, und ihr Trägerverein hat dort auch seine Geschäftsstelle eingerichtet. Dort arbeitet Antonio Florio halbtags im Büro. Sein Chef Albert Vogel ist der Vorsitzende der Insel und kennt ihn seit 23 Jahren. Er sagt: „Was Herr Florio persönlich geleistet und erreicht hat, ist enorm. Das verdient jeglichen Respekt.“ Bis zu seinem 19. Lebensjahr hat Florio zu Hause bei seinen Eltern gelebt. Dann zog er in eine Insel-WG nach Schwieberdingen, gegen den Willen der Eltern. Acht Jahre war er dort, fühlte sich wohl. Dann wollte er mehr.
Auch Albert Vogel findet, dass Antonio Florio in den vergangenen zweieinhalb Jahren große Fortschritte gemacht hat. So große, dass ein betreutes Wohnen bei der Insel „keine geeignete alternative Wohnform“ mehr sei. Deshalb werde ihn die Insel nicht mehr aufnehmen. Die Lösung aller Probleme ist das allerdings nicht. Denn der Vereinsvorsitzende sagt auch, dass das Landratsamt wohl kaum gewillt sei, einen Präzedenzfall zu schaffen. Antonio Florio wäre der erste Behinderte, der das Arbeitgebermodell im Kreis Ludwigsburg nutzen würde.
Als Antonio Florio im Mai 2002 zum Arbeitgeber wurde, hat er sich einen Anwalt genommen, der ihm helfen sollte, das Geld vom Landratsamt zu bekommen. Der Anwalt hatte viel Erfahrung mit solchen Fällen, und er kündigte Florio an, dass der Weg für ihn zum „Horrortrip“ werden könnte. Inzwischen hat er sein Mandat abgegeben. Die Wahrscheinlichkeit, auch nur in die Berufung zu kommen, sei nicht sehr groß, meinte er. Der neue Anwalt will es dennoch versuchen und ihm dabei helfen, die Schulden bezahlen zu können. Gleichzeitig hat Antonio Florio beim Landratsamt einen neuen „Antrag auf Hilfe in besonderen Lebenslagen“ eingereicht. Damit er, falls der Anwalt scheitert, seine Angestellten trotzdem behalten und sie wenigstens künftig bezahlen kann.

Nun, so hat Antonio Florio ausgerechnet, würde er mit 3900 Euro vom Landratsamt zurechtkommen. Dafür hat er Beate V. ihren untertariflichen Lohn gekürzt und seinen zweiten hauptamtlichen Assistenten von der Gehaltsliste genommen. Dieser ist nun offiziell bei der Evangelischen Gesellschaft (Eva) in Stuttgart beschäftigt, fährt aber weiterhin jeden zweiten Tag nach Tamm. Florio kann so Geld sparen, unterm Stich kommt diese Rechnung die öffentliche Hand dennoch teurer. Weil die Eva bei der Pflegekasse höher abrechnen kann als Antonio Florio.

Am Ende dieses Tages gönnt sich Antonio Florio eine Pizza vom Lieferservice. Es war ein guter Tag, seine Präsentation hat Eindruck gemacht. „Ich hab denen mal die Realität gezeigt“, sagt Antonio Florio zwischen den Bissen, die ihm Beate V. in den Mund schiebt. Es war auch ein langer und anstrengender Tag, dennoch hat er Antonio Florio Kraft gegeben. „Ich ziehe hier nicht aus“, sagt er. Doch drohend klingt das nicht. Es klingt, wie wenn jemand lange gekämpft hat und sich selbst Mut machen möchte.

Quelle: Stuttgarter Zeitung vom 21. Januar 2005
Ich bedanke mich bei der Autorin und der Stuttgarter Zeitung für die Genehmigung der Übernahme