Meine Eltern kommen aus Süditalien, meine Mutter stammt aus Kalabrien, mein Vater kommt aus der Nähe von Rom. Kennengelernt oder besser das erste Mal gesehen haben sich die beiden in einem Supermarkt in Deutschland. In Süditalien war es üblich, dass sich der Mann bei den
Eltern der Frau vorstellt, um dort um ihre Hand anzuhalten. Mein Vater folgte dieser Tradition und hielt bei meinen Großeltern um die Hand meiner Mutter an. Ungefähr ein Jahr später heirateten sie. Meine Mutter war 16 Jahre alt, mein Vater 20 Jahre. Da die finanziellen Mittel knapp waren, wurde die Hochzeitsfeier schlicht gehalten und fand im kleinen Kreise statt.
Meine Schwester Maria kam ein Jahr später auf die Welt und ich folgte etwa fünf Jahre später. Die komplizierte Geburt und der daraus folgende Sauerstoffmangel führten zur Entstehung meiner Behinderung.
Diese Nachricht war für alle ein Schock, besonders für meine Eltern. In den ersten zwei bis drei Jahren war meine Behinderung noch nicht richtig sichtbar. Damals konnte ich noch selbstständig stehen und einige Schritte alleine gehen. Doch dann wurde die Spastik langsam stärker und meine Eltern mussten erkennen und akzeptieren, dass ihr Sohn sein Leben lang auf den Rollstuhl und fremde Hilfe angewiesen sein wird. Eine Erkenntnis, mit der sie gut umgegangen sind und die sie auch angenommen haben. Die Erziehung erfolgte trotz meiner Behinderung nicht anders als bei meiner Schwester. Einen „Behindertenbonus“ gab es nicht. Gleichzeitig schufen meine Eltern eine beschützte Umgebung, in der ich mich bis zu einem gewissen Zeitpunkt sehr wohl gefühlt habe. Doch das Mitleid des sozialen Umfelds, beispielsweise wenn wir spazieren gingen und die Aufmerksamkeit, die aufgrund meines Rollstuhls hervorgerufen wurde, war für meine Eltern unangenehm.
Doch wie bei jedem Nichtbehinderten setzte auch bei mir mit ca. 13 Jahren die Pubertät ein und ich versuchte, unabhängiger zu werden. In mir begann ein Kampf zwischen zwei unterschiedlichen Arten von Erziehung: Während meine Eltern mir ein sicheres und beschütztes Zuhause
gaben, lehrte mich die Schule, dass man trotz Behinderung seinen eigenen Wünschen im Leben nachgehen kann und auch soll. Der Drang nach Emanzipation setzte sich dabei immer stärker durch. Er wurde noch größer, als meine Eltern ein paar Jahre später mit dem Gedanken spielten, nach meiner Schulzeit für immer mit mir nach Italien zurückzukehren. Die Vorstellung, in Italien leben zu müssen, hat mir Angst gemacht. Eine Perspektive sah ich in Süditalien nicht.
Deutschland sah ich als meine Heimat an, in der ich leben wollte. Der Erziehungsansatz meiner Schule hatte sich durchgesetzt.
Um meine Selbstständigkeit voranzubringen, wandte ich mich mit 19 Jahren an den Konrektor meiner Schule. Er war gleichzeitig Vorsitzender eines Vereins namens „INSEL e.V.“, dessen Vereinszweck „Angebote des betreuten Wohnens für Menschen mit Behinderung“ sind. In einem
Gespräch erklärte ich ihm die zwiespältige Situation, dass ich befürchtete, mit meinen Eltern nach Italien zurückkehren zu müssen, aber dagegen den Wunsch und Drang hatte, selbstständig zu werden und in Deutschland zu bleiben. Daraufhin bot er mir an, in eine Wohngemeinschaft der INSEL zu ziehen, da gerade ein Zimmer frei geworden war. Sein Angebot nahm ich ohne
Zögern an. Allerdings hatte ich sehr große Angst, diese Entscheidung meinen Eltern mitzuteilen. Deshalb luden wir sie zu einem Gespräch in die Schule ein. Sie reagierten verärgert und waren sehr enttäuscht von mir. Vor allem meine Mutter fühlte sich in ihrer „Mutterehre“ verletzt und
zurückgewiesen. In ihrem Schmerz konnten sie damals noch nicht sehen, dass ihr Sohn erwachsener und emanzipierter geworden war. Jegliche vernünftige Argumentation war sinnlos. Die Vorstellung, dass Fremde mich pflegen würden, konnten sie nicht akzeptieren. Sie sahen in mir einen „wehrlosen“ Menschen, der ständig auf Hilfe angewiesen war und ist. Ihre negative
Einstellung bezüglich meines Abnabelungswunsches wurde noch verstärkt, als sie mit Verwandten darüber redeten. Es entstand der Eindruck, ich halte sie für „Rabeneltern“. Sätze wie: „19 Jahre haben wir dich gepflegt und nun wendest du dich ab“, waren von nun an an der Tagesordnung. Trotzdem hielt ich an meinem Entschluss auszuziehen beharrlich fest.
Nach Rücksprache mit meinem Konrektor nutzte ich die Möglichkeit, dass ich jeden Freitagabend vom Deutschen Roten Kreuz (DRK) abgeholt und zum Schachklub gefahren wurde. Eines Freitags war es dann soweit, dass ich nach dem Schachklub nicht mehr nach Hause kam – ich haute ab und wurde in einer Wohngemeinschaft der „INSEL e.V.“ untergebracht. Von dort aus rief ich am späten Abend zu Hause an, um mitzuteilen, dass ich nicht mehr zurückkommen würde. Meinen Aufenthaltsort teilte ich nicht mit. Die erste Nacht in der Wohngemeinschaft fühlte ich mich groß und erwachsen. Gleichzeitig hatte ich ein sehr schlechtes
Gewissen gegenüber
meinen Eltern. Ich wusste, dass sie sich große Sorgen machen würden. In der folgenden Woche kamen sie in die Schule und versuchten, mich zu überreden, wieder nach Hause zu kommen. Meine Entscheidung stand jedoch fest: Ich wollte unabhängig und selbstständig sein.
Die überraschenden Besuche meiner Familie kamen in den ersten Monaten sehr häufig und
waren für mich sehr anstrengend. Sie versuchten, mich von meiner Entscheidung abzubringen. In dieser Zeit erlebte ich, wie viel Macht eine Mutter besitzt, auch ohne ständige Anwesenheit.
Ihre Aussage, wegen mir kaum noch essen zu können, bedrückte mich und mein schlechtes Gewissen nahm stets zu. Mein Vater stand dabei ein wenig zwischen den Fronten. Er hielt selbstverständlich zu meiner Mutter und wollte mich auch überreden, wieder zu ihnen zu ziehen. Allerdings spürte ich, dass er meine Entscheidung auch nachvollziehen konnte. Der Schmerz seiner Frau über den „Verlust“ des Sohnes war jedoch zu groß und es war ihm nicht möglich, ihr meinen Entschluss begreiflich zu machen. Eines Abends spielte meine Mutter ihren letzten Trumpf aus. Bei einem Besuch stand sie von ihrem Stuhl auf, blickte mir mit Tränen ins Gesicht und meinte: „Ab jetzt hast du keine Mutter mehr.“ Dieser Satz war schlimmer als jede Ohrfeige. Sie ging nach Hause und ich hielt an meiner Entscheidung fest. Sie hatte mich tief verletzt, doch gleichzeitig wusste ich, dass sie das aus ihrem Schmerz heraus gesagt hatte. Ab diesem Moment stand
meinem Weg nichts mehr entgegen. Eine tiefere Kränkung konnte nicht mehr folgen.
Das Verhältnis zu meinen Eltern war ein Jahr lang sehr gestört. Sie versuchten zwar nicht mehr, mich zur Rückkehr nach Hause zu überreden, aber die veränderte Situation fiel ihnen weiterhin schwer und meine Mutter kämpfte damit, meinen Weg zu akzeptieren.
Es gibt Momente, die bleiben immer in Erinnerung, gleich, wie viel Zeit vergeht. Ein solcher kam, als meine Eltern das erste Mal ohne mich in den Sommerurlaub fuhren. Bei unserer Verabschiedung sagten ihre Blicke zu mir, „Pass auf dich auf.“ In diesem Augenblick spürte ich, dass vor
allem meine Mutter zum ersten Mal anfing, loszulassen. Bald darauf nahm ich meine Arbeit im Büro der Insel e.V. auf und meine Eltern konnten mich erstmals als erwachsenen Sohn erleben.
Meinen Weg in die Selbstbestimmung konnte ich ab diesem Zeitpunkt mit ruhigem Gewissen fortsetzen. Und die Fortsetzung folgte!